Polnische Seelenqualitäten in der Geschichte

20.10. 2014

 

Fragt man einen Polen nach der zentralen Idee des Polentums, dann antwortet er: die Freiheit! Sie ist die gewaltige Triebfeder polnischen Seins. Sie geht soweit, daß er bestrebt ist, jede entstehende Form schnellstmöglich wieder zu überwinden - Anarchie als gesunde Lebensart!

 

Dies ist gekoppelt mit einem ausgeprägten Hang zum Individualismus. Beides ist natürlich erstrebenswert und zukunftsträchtig, aber um im Sozialen gesundend zu wirken, erfordert es vom Einzelnen ein Höchstmaß an ethisch-moralischer Verantwortung, jenseits von Egoismus. Da dies bis heute noch kaum entwickelt ist, spiegelt sich diese Diskrepanz auch in Polens Geschichte. Entwicklungssprünge und staatliche Verwerfungen waren die zwangsläufige Folge. Mit dem Schlagwort von der „polnischen Wirtschaft“ sind die effektiv-chaotisch funktionierenden Verhältnisse gut versinnbildlicht.

 

Eine dritte Qualität ist mit der Marienverehrung verbunden, weniger als katholisch motivierte, religiöse Hingabe, sondern als individuelle und volksmäßige Rückversicherung. Was heißt das? Polens Eintreten in die europäische Geschichte ist sozusagen eine Spätgeburt, die von Anfang an Schutz suchte. Die schlagartig einsetzende (im Übrigen völlig friedliche) Christianisierung des Volkes hatte den Verlust der eigenen mythologischen Urgeschichte zur Folge, von der heute nur noch fragmentarische Reste existieren. Das alte geistige Band ersetzte der Pole durch Bilder aus dem Christentum. Und gerade das überirdisch-mütterliche Element der Jungfrau und Mutter Maria war ihm von Beginn an Hülle und Inspirationsquelle. Die polnische Sprache drückt eine seelische Verdoppelung aus, indem sie die Seele zur weiblichen Seite des Geistes macht: duch = Geist; dusza = Seele, exakter Weise „Geist“ und „Geistin“. So verbleibt der Pole ständig mit einem Teil seiner Seelenkräfte in dieser Sphäre. Mit dem anderen ist er in den irdischen Verhältnissen tätig. Deshalb erfasst seine Seele eine andauernde Spannung zwischen weitreichenden geistigen Inspirationen und irdischen Gestaltungsfragen, die sich in einer Art seelischer Zerrissenheit darlebt. Dabei kommt es zu weit voraus eilenden und zukunftsweisenden Sozialimpulsen, die auf Grund der noch nicht reifen Erdenverhältnisse wie gesellschaftliche Frühgeburten wirken.

 

Vor allem im Rechtsleben begegnen uns solche Frühgeburten, zuerst im Recht des „Liberum Veto“. Im 15. oder 16. Jhd. geschöpft, wurde es erstmals Mitte des 17. Jahrhunderts real angewendet. Damit war Polen der einzige Staat Europas, in dem weder das auch heute übliche Mehrheitsrecht galt noch eine absolutistische Königsherrschaft akzeptiert wurde. Dieses Individualrecht stand nur Adligen zu, und Beschlüsse mussten so lange verhandelt werden, bis Einstimmigkeit erreicht war. Es ist ein Zukunftsrecht für soziales Miteinander, denn es fordert von jedem Beteiligten Verantwortlichkeit, Toleranz und Verständnis für den Standpunkt des Anderen.

 

Daß dies einen großen Anteil hatte am Untergang des polnischen Staates, ist allzu verständlich, denn wenn der Einzelne sich auf einen egoistischen Standpunkt zurückzieht, wird ein solches Individualrecht zur alles blockierenden Waffe. Besonders im 18. Jhd. wurden viele Reichstage durch das Liberum-Veto handlungsunfähig, was zu gesellschaftlichem Stillstand und Chaos führte.

 

Die englische ´Habeas Corpus Akte´ aus dem Jahre 1679 wird allgemein als ein Meilenstein im Kampf um die Freiheitsrechte des Einzelnen gefeiert. Unbekannt ist, dass ein vergleichbares Recht als Adelsprivileg (Neminem captivabimus) bereits 250 Jahre früher in Polen erlassen wurde. Dazu kamen weitere, die man getrost als Vorläufer eines modernen Parlamentarismus ansehen kann, wie das Recht „Nihil-Novo“ (königliche Aktivitäten benötigen die Zustimmung des Reichstages) und die „Pacta Conventa“ (Verabschiedung des Regierungsprogramms des Königs). Lange vor vergleichbaren Maßnahmen in anderen europäischen Metropolen praktiziert Polen bereits ein parlamentarisches Gleichgewicht aus Legislative und Exekutive mit dem König als dazwischen stehendem Moderator, während im 17. Jhd. in den Nachbarstaaten erst noch die pyramidale Form des Absolutismus entsteht.

 

Die erste schriftliche Verfassung Europas verabschiedet der Reichstag 1791, rund 4 Monate vor der französischen! Besonders der letzte Paragraf ist richtungsweisend. Dort wurde festgelegt, dass die Verfassung eine Gültigkeitsdauer von nur einer Generation haben sollte mit dem Auftrag, sie gegebenenfalls anzupassen und weiter zu entwickeln. Mit anderen Worten, es bestand die Pflicht, nach 25 bis 30 Jahren die Verfassung neu zu verabschieden, auch wenn nichts zu ändern wäre. Diese Festlegung zeugt von dem starken Bewusstsein, dass sich Vereinbarungen im Sozialen entsprechend den Entwicklungsschritten der Sozialgemeinschaft dynamisch weiter entwickeln müssen, um lebensfähig und real zu sein. Leider ist in keiner Verfassung der Welt heute eine solche Passage verankert. Dieser Verfassung war nur eine Lebensdauer von 4 Jahren vergönnt. Dann verschwand sie in der Mülltonne der Geschichte, bedingt durch die Liquidierung des polnischen Staates. Die Polen haben sie dort leider im Jubel der staatlichen Auferstehung nach 1919 vergessen.

 

Nicht nur im Rechtlichen wirkte das polnische Volk beispielgebend. Auch das weitgehend friedliche Ringen zweier Völker um Gemeinsamkeit und staatliche Einheit, die kaum verschiedener hätten sein können, verdient Beachtung. Gemeint ist die Polnisch-Litauische Union von 1569. Bereits Ende des 14. Jahrhunderts kam es durch Heirat zu einer dynastischen Zusammenführung dieser beiden Völker. Sprache, Religion, Führungsstil, Aufgabenstellungen, Selbstverständnis des Adels und nachbarliche Orientierung von Polen und Litauern lagen weit auseinander. Um so erstaunlicher ist es, wie lautlos, kontinuierlich, fast reibungslos und ohne jegliches Blutvergießen der Weg zur gemeinschaftlichen Staatenunion beschritten wurde. Die Union wurde erst durch die Teilung 1791 liquidiert. Nirgendwo in Europa hat sich ein solch inniger Zusammenschluss so konsequent vollzogen und eine mehr als 400-jährige Lebensfähigkeit bewiesen. Was die Völker Polens und Litauens im Zusammenspiel mit Ruthenen (Ukrainern) und Weißrussen in dieser Zeit auf friedlichem Weg geschafft haben, können wir als vorbildlich bezeichnen für ein Zusammenleben von Völkern heute und in der Zukunft.

 

Solche Fähigkeiten haben mit Toleranz zu tun, und diese haben die Polen auch auf religiösem Gebiet entwickelt. Ein halbes Jahrhundert vor Ausbruch des 30-jährigen Krieges, der ja u.a. eine gewaltsame religiöse Auseinandersetzung war, wurde in Polen schon das „Recht auf Glaubensfreiheit“ erlassen. Nicht der Landesfürst, wie in Deutschland üblich, bestimmte die Religionszugehörigkeit seiner Untertanen, sondern jeder Einzelne konnte sich frei entscheiden. Inquisition und Ketzerverbrennungen hat es deshalb in Polen nie gegeben.

 

Haben wir bisher geschichtliche Tatsachen beleuchtet, die impulsiert waren aus den Kräften von Freiheit und Individualismus, so wenden wir uns nun dem Thema der seelischen Zerrissenheit zu. Hier begegnen wir der leidvollen Seite polnischer Geschichte. Ein erstes Zerreißen polnischer Staatlichkeit trat im 12. Jhd. ein durch das sogenannte Senioratstestament. Der polnische König verfügte, daß das Reich unter seine vier ältesten Söhne aufgeteilt werde, wobei der jeweils Älteste eine Art von Seniorat inne haben sollte. Dafür waren gegenseitige Toleranz- und Verständniskräfte nötig bei den Beteiligten, die aber kaum vorhanden waren. So versank Polen in den folgenden 200 Jahren in territorialer Zersplitterung und heftigsten inneren Kämpfen um die Vorherrschaft.

 

Aber genau in diese Zeit äußerer Zerrissenheit fällt ein wichtiger Kulturimpuls: der Beginn der deutschen Ostbesiedlung, die durch den Herzog von Schlesien und seine Frau Hedwig befördert wurde. Klostergründungen und Handwerkszünfte in den Städten entstehen. Es ist der Anfang einer mehrhundertjährigen kulturellen Impulsierung und Durchmischung von polnischen und deutschen Elementen.

 

Eine zweite Epoche polnischer Zerrissenheit beginnt Ende des 18. Jahrhunderts und endet erst 1919. Gemeint ist die 120-jährige Zeit der totalen staatlichen Auslöschung Polens. Doch diesmal entstand die Zerrissenheit durch das Eingreifen der Nachbarn Russland, Preußen und Österreich. Als die Polen sich in einem letzten großen Akt zur bereits erwähnten ersten Verfassung von 1791 aufschwangen, bedeutete dies das Ende ihrer Selbstständigkeit. Die Teilungsmächte, schon genug aufgeschreckt durch die Ereignisse der französischen Revolution, wollten nicht auch noch ein zweites Freiheitsfanal direkt vor der Haustür. So wurde die komplette Teilung und Liquidierung Polens durchgeführt. Allerdings war dieser äußerliche Nulldurchgang mit einer inneren Blütenbildung verbunden. Während der vier Generationen währenden Teilungszeit entwickelten die Polen in den drei neuen Staatlichkeiten unterschiedliche Qualitäten und Fähigkeiten. Sie übten das zukünftige soziale Ideal einer Gliederung von kulturellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Impulsen, allerdings noch unfreiwillig und getrennt.

 

Im am stärksten kulturell unterdrückten russischen Teil wurden die großen Geister des polnischen Kulturlebens geboren. Jedoch war ihr Wirken im Land selber nicht möglich, weshalb Paris zum Ort der großen Emigration wurde. Hier entfaltete sich die ureigene polnische Geistigkeit. Die großen Dichter und Philosophen, die die Hegelsche Philosophie zu einer Tatphilosophie weiter entwickelten, führten Polens Geistesleben zu einer nie vorher dagewesenen und bis heute unerreichten Höhe. Hier wurde höchste geistige Kompetenz erworben!

 

 Im preußischen Teil entstand ein potentes wirtschaftliches Undercover-Netzwerk, welches den offiziellen staatlichen und wirtschaftlichen Aktivitäten der Preußen das Wasser abgrub. Der preußische Pole erwarb eine erstaunlich kreative, innovative und schlagkräftige Wirtschaftskompetenz!

 

Der Pole des österreichischen Teils war von Anfang an eingebunden in das politisch-staatliche Leben des Vielvölkerstaats. So gab es mehrere Jahre lang einen polnischen Ministerpräsidenten und etliche Fachminister im Wiener Kabinett. Hier wurde politische Kompetenz entwickelt!

 

Diese Fähigkeiten hätten am Abend des 1. Weltkriegs in ein wieder erstehendes polnisches Staatsgebilde eingebracht werden sollen, aber im Kampf um die Entstehung und Existenz der 2. Republik und vor allem durch die große Völkerwanderung am Ende des 2. Weltkriegs gingen diese Qualitäten unter. Polen hat sich im Außen wiedergefunden, aber die großartigen sozialen Qualitäten warten noch auf Verwirklichung in der Welt, als Zukunftsquell im Herzen Europas.

 

 

Erlebniswoche/ Tydzień BYĆ I CZUĆ