UKRAINE - ´GRENZLAND´

 Zusammenfassung eines Vortrags vom 26.10.2014 in Lübeck

 

Die Ukraine, wörtlich Grenzland, war ursprünglich nur ein Grenzgebiet, kein eigenes Land. Der Name kam Ende des 1. Jahrtausends auf, als sich das Kiewer Reich, die Keimzelle des späteren Zarenreichs, gegenüber seinen südlichen Nachbarn abgrenzen musste. Es fehlte eine natürliche Grenze, und der angrenzende Landstrich war nur dünn besiedelt. So hieß er einfach Grenzland. Dahinter erstreckte sich noch weiter im Südosten das Wilde Feld, eine steppenartige Ödnis, die unbewohnt war, obwohl sie über beste Schwarzerdeböden verfügte. Noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war Wildes Feld für die Schwarzmeerküste und das Donezker Becken allgemein gebräuchlich und verschwand erst nach der intensiven Besiedlung dieser Landstriche.

 

Das Wilde Feld lag wie zwischen den Zivilisationen, blieb viele Jahrhunderte lang ein ethnisches Niemandsland und eine unausgefüllte Mitte zwischen europäischen und asiatischen Impulsen. Doch hatte hier bereits in den vorchristlichen Zeiten das Volk der Skythen eine sehr hochstehende spirituelle Kultur entwickelt. So imprägniert und vorbereitet, harrte es auf einen neuen Impuls, der dann 7x300 Jahre später heraufzog und im 17. Jhd. kulminierte! Zwischenzeitlich war es Rückzugsgebiet der Goldenen Horde. Als ihr Reich im 15. Jhd. zerfiel, begann nach und nach eine Neubesiedlung durch entlaufene, leibeigene Bauern aus dem polnisch-litauischen Königreich, später auch durch Menschen, die sich der dort beginnenden Gegenreformation und der damit verbundenen Zwangskatholisierung entziehen wollten. Sie wurden vor allem am Unterlauf des Dnjepr sesshaft, nördlich der Halbinsel Krim. Sie nannten sich Kosaken, d.h. Freie Menschen, und bildeten im 16. Jhd. einen eigenen Staat, das Land hinter den Stromschnellen, denn ihren Hauptsitz hatten sie auf der seit Alters her heiligen Dnjepr-Insel Chortyzja, unterhalb der berüchtigten Stromschnellen. Unter den Kosaken galt Gleichheit, und sie waren basisdemokratisch organisiert. Jeweils zu Neujahr wurde auf einer Volksversammlung das Oberhaupt für ein Jahr gewählt. Er war dann oberster Feldherr und Richter.

 

Dieser besondere Staat hatte es gegenüber dem Zarenreich und der polnischen Krone zunehmend schwerer, sich zu behaupten. Beide wollten dies freiheitlich gesinnte Volk wieder in ihren Herrschaftsbereich integrieren. Ende des 18. Jahrhunderts wurde dann der Kosakenstaat durch Russland gewaltsam aufgelöst und dem Zarenreich einverleibt.

 

Einer ihrer letzten großen Vertreter war der legendäre Volkssänger und Prophet Wernyhora. Inmitten der letzten Überlebenskämpfe wirkte er als Schlichter und Ausgleichender, der den Frieden unter den Völkern beschwor. Er war von allen geachtet und forderte die Überwindung jeglicher nationalen oder religiösen Vor- bzw. Sonderrechte. Dass seine Versuche im Geschichtsverständnis der modernen Ukraine keine besondere Wertschätzung erfahren, ist eine der großen Tragiken unserer Zeit. Es offenbart das Dilemma eines fehlenden Ausgleichs- und Mitte-Impulses im heutigen ethnischen Konflikt. Schließlich setzt sich die Ukraine aus noch zwei weiteren ethnischen Gruppierungen zusammen, die teilweise bis ins 20. Jhd. unterschiedliche Sozialisationen durchgemacht haben.

 

Wenden wir uns zuerst den westlichen Regionen zu. Das, was wir heute West-Ukraine nennen (das östliche Karpaten-Vorland und die großen Waldgebiete im Dreiländereck Polen, Weißrussland und Ukraine), hat insbesondere in den letzten 700 Jahren eine andere Entwicklung vollzogen. Nach der Völkerwanderungszeit wurde dieser Landstrich Teil des Kiewer Reichs und empfing schon früh erste ur-russische Impulse. Als es später durch Erbteilungen zerfiel, entstand ab dem 12. Jhd. das mächtige Fürstentum Halitsch-Wolhynien, die Keimzelle der heutigen West-Ukraine.

 

Im 13/14. Jhd. kam dieses Reich teils in den Herrschaftsbereich des Großfürstentums Litauen, teils in den Polens. Durch die polnisch-litauische Union im 16. Jahrhundert wurde es vollständig dem neuen Königreich eingegliedert und hieß jetzt im Süden Galizien und im Norden weiterhin Wolhynien. So blieb es bis zur polnischen Teilung Ende des 18. Jahrhunderts. Dabei erhielt Russland Ostpolen mit Wolhynien und Warschau und Österreich die südlichen Teile mit Ostgalizien und Krakau. Dies blieb 123 Jahre so bis zum Ende des 1. Weltkriegs. Zwischen den Weltkriegen wurde Galizien für kurze Zeit wieder polnisch, während Wolhynien dauerhaft bei Russland verblieb. Ab Ende des 2. Weltkriegs gehörten dann beide Gebiete zur Sowjetunion bis zur Unabhängigkeit der Ukraine. Bei Galizien kann man durchaus von einem gewissen Trauma sprechen, denn seit der polnischen Teilung ist es dauerhaft in Ost- und Westgalizien zertrennt. In Westgalizien ist Krakau das Zentrum, und Lemberg ist es im Osten.

 

Die wechselvollen Zugehörigkeiten haben die Menschen dieser Region stark geprägt, und so konnte sich eine eigene Volksidee kaum herausbilden. Trotzdem entwickelten sich erste rudimentäre Ansätze eines eigenen Selbstverständnisses. Dieses kristallisierte unter dem Oberbegriff Ruthenen, einer Latinisierung des Rus-Namens. Zudem entwickelte sich eine einfache Umgangssprache, ein Gemisch aus Alt- und Kirchenslawisch, die als Ruthenisch bezeichnet wurde. Sie ist der Vorläufer des heutigen Ukrainisch, eines polnisch-russisch-ruthenischen Gemischs, das noch bis ins 18. Jhd. nur als ein Dialekt in Teilen Ostgaliziens gesprochen wurde.

 

Die Geschichte der heutigen West-Ukraine macht deutlich, dass der Wunsch, eine eigene Identität zu entwickeln, letztlich ein Versuch war, sich gegenüber den äußeren Herrschaftsimpulsen abzugrenzen. Alle äußeren Einflüsse waren zeitlich begrenzte Epochen von ca. 200 Jahren. Diese Spannen reichten nie aus, um eine entsprechend neue Identität auszubilden. Immer dann, wenn sich der Assimilierungsprozess ein Stück weit entwickelt hatte, kam es zum Bruch und einem neuen Impuls. So wurden die seelisch-geistigen Lebensgrundlagen beständig durcheinander geschüttelt und die Menschen waren immer auf sich selbst geworfen, ohne wirklich zu einem sozialen Wir zu finden.

 

Das Bestreben, vor allem während des 1. Weltkriegs, eine eigene Identität zu erlangen, reduzierte sich deshalb auf formale verwaltungstechnische Begriffe. In der Amtssprache wurde der Begriff Ruthene durch Ukrainer ersetzt, weil jener eine nicht gewollte Nähe zum Russischen ausdrückte. So feierte der Begriff früherer Jahrhunderte eine Auferstehung, und man nannte sich jetzt ´Grenzländer´. Dieser Einschnitt vollzog sich zunächst nur im Westteil der heutigen Ukraine. Die Suche nach einer nationalen Identität musste die äußerliche Abgrenzung und Separierung überbetonen, wodurch ein zunehmender Nationalismus Fuß fasste, der sich besonders in Konfliktsituationen bis zu faschistoiden Tendenzen steigern kann. Dies ist eine übertriebene Geste eines nach Wirklichkeit strebenden, aber nicht wirklich verankerten, volkhaften Selbstwertgefühls.

 

Der Weg der heutigen Ost-Ukraine, die sich östlich des Dnjepr erstreckt und keine natürliche Grenze zu Russland hat (erst seit 1998 gibt es einen Grenzvertrag) war ein anderer. Die späte Grenzregelung z.B. zeigt, daß dieses Gebiet sowohl von Russland als auch von der Ukraine kaum mit Bewusstsein durchdrungen war. Die einen waren überzeugt, daß es immer russisch war, den anderen fehlte ein kulturelles Selbstverständnis vom eigenen Territorium.

 

Ursprünglich war dieses Gebiet Teil des Wilden Feldes. Diese niederschlagsarme, heiße Steppenlandschaft, die heute fast 40% der ukrainischen Landfläche ausmacht, fiel nach der polnisch-litauischen Union an Polen. Allerdings führte die restriktive Katholisierungspolitik Polens im Rahmen der Gegenreformation zu heftigen Widerständen vor allem bei den östlichen Kosaken. Auf der Suche nach einem Bündnispartner wandten sie sich an den russischen Zaren. Dabei leisteten sie 1654 den sogenannten Treueeid gegenüber dem Zaren als Gegenleistung für seine Hilfe. Dieser Akt wurde in der späteren Geschichtsschreibung sehr unterschiedlich bewertet. Die ukrainischen Historiker z.B. sehen in ihm ein zeitlich begrenztes Bündnis zweier freier und gleichberechtigter Partner, während für das russische Geschichtsbild das Jahr 1654 die natürliche Rückkehr dieser Gebiete in das vormalige Kiewer Reich bedeutete, und somit ein überfälliger Vorgang war.

 

Auf diese Weise kam das Ost-Kosakenreich nach und nach unter russischen Einfluss und verschwand. Als sich 1954 der Treueeid zum 300-sten Mal jährte, war dies für Moskau und Kiew ein Anlass zu großen Feierlichkeiten, während denen Chruschtschow die seit Jahrhunderten russische Krim als Geschenk an die ukrainische Sowjetrepublik übergab. Dies bedeutete damals keinen einschneidenden territorialen Vorgang, verblieb doch die Krim im sowjetischen Gesamtverband. Aber spätestens seit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine wurde die Krim zu einem Politikum. Heute, zwei Generationen später, ist diese Frage zu einem ernsten Konflikt eskaliert.

 

Als im 18. Jhd. in der Ost-Ukraine umfangreiche Kohle- und Erzlager entdeckt wurden, wandelten sich die mehr lose organisierten Restkosaken und Russen zu einem Industrieproletariat, wodurch sich das nur rudimentär vorhandene Volksgefühl vollends auflöste. Die Ost-Ukraine wuchs zu einem Zentrum der sowjetischen Schwerindustrie und war dadurch von nun an eine privilegierte Region.

 

Seit nunmehr 300 Jahren sind diese Gebiete mit Russland verbunden, die östlichsten sogar noch länger. Sie, die nie zum Kosakenstaat gehörten, wurden russisch, als die Goldene Horde verschwand, und so ist die Assimilierung mit dem Russischen schon weit fortgeschritten.

 

Wir halten fest, daß die Ukraine, das flächenmäßig zweitgrößte Land Europas, über drei sehr unterschiedliche Sozialisationsquellen verfügt, von denen keine zu einem volksmäßigen Selbstverständnis gekommen ist. So erscheint die heutige Ukraine in ihren Grenzen als ein mehr oder weniger künstliches Gebilde auf der Suche nach einem Selbst. Das verbindende Element, die Kosaken, als ausgleichende Mittekraft, existiert nicht mehr und wird schmerzlich vermisst. Zwangsläufig mußte es deshalb zu Interessenkonflikten zwischen der West- und Ostukraine kommen. Dies war seit Mitte der 90-er Jahre deutlich erlebbar. Jede neue Wahl brachte die andere Seite an die Macht, allerdings ohne klare Mehrheitsverhältnisse. Da jede Seite eigene Interessen verfolgte, kam es zwangsläufig zu Gegenprotesten (orangene Revolution, Maidan).

 

Die zusätzlich hineinspielenden russischen und EU-Interessen erschweren zudem eine gesamtukrainische Selbstfindung. Diese kann letztlich nur durch einen Interessenausgleich im Innern erreicht werden ohne die egoistischen Hebammendienste von Russland und EU.

 

 

Erlebniswoche/ Tydzień BYĆ I CZUĆ